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Politische Identitätsentwicklung und demokratische Gemeinschaftsbildung in der Dorfgründungssimulation

Die 25-stündige Dorfgründungssimulation (Petrik 2013, Petrik u.a. 2018) ist ein schulisch erprobtes soziales Experiment, das zugleich als Unterrichtsmodell und qualitatives Erhebungsinstrument zur Rekonstruktion politischer Identitätsentwicklung und demokratischer Gemeinschaftsbildung dient. Es greift Alltagsvorstellungen Jugendlicher zu zentralen gesellschaftlichen Konfliktlinien und zum demokratischen System auf.

Die Simulation soll an ausgewählten Schulen (qualitatives sampling) im Rahmen zweier Projekttage und 4- bis 5-wöchentlicher Doppelstunden implementiert werden, deren soziokultureller Kontext eine erhöhte Ablehnung demokratischer Prinzipien in Gestalt rechtspopulistischer, rechtsextremistischer oder islamistischer Haltungen erwarten lässt. Dies betrifft vor allem multikulturelle großstädtische Wohnquartiere sowie strukturschwache, von Abwanderung betroffene ländliche Gebiete (Landstädte). Als Vergleichsgruppen werden Klassen in privilegierten soziokulturellen Kontexten untersucht.

Das Transferprojekt  HAL_T_03 fokussiert die Transferanstrengungen des FGZ Halle, weil zentrale Prämissen der Konzentration auf die Dynamiken lokaler Gesellschaften in den Teilprojekten der Grundlagenforschung hier in ihrer Relevanz für Erfahrungslernen genutzt werden. Aktiver sozialer Zusammenhalt in Bürgergesellschaften, insbesondere Konfliktlösungs- und Urteilskompetenz und damit selbstreflexive Lernprozesse, sollen in der Simulation gestärkt werden. Die forschungsbasierte Weiterentwicklung des Unterrichtsmodells speziell im Hinblick auf extremismusgefährdete Jugendliche ist zudem Teil der Transferstrategie des FGZ in dem Bestreben möglichst breit gefächerte Transferinstrumente zu entwickeln, die alle Teile der Gesellschaft erreichen. Methodisch werden im Teilprojekt Lehrer*innen geschult, um die Simulation durchführen zu können, die qualitativ und auch quantitativ evaluiert werden soll, um die Passfähigkeit und die Wirkung dieses didaktischen Instruments für verschiedenste Zielgruppen zu verbessern. Hierzu haben sich längsschnittliche Verfahren, die Videografien mit Interviewtechniken kombinieren, bewährt.

Praxispartner sind die Bundeszentrale und Landeszentralen für Politische Bildung; Deutsche Vereinigung für Politische Bildung (DVPB) e.V.; Gesellschaft für Politikdidaktik und Politische Jugend- und Erwachsenenbildung; Landesinstitute für Lehrerbildung.

Meilensteine des Teilprojektes sind der Abschluss der Erhebungen nach den durchgeführten Dorfsimulationen im Januar 2021, 2022 und 2023; die Präsentation von Befunden in Methodenworkshops im Juni 2021, 2022 und 2023; sowie die Vorlage des Gesamtberichts im Dezember 2023.

Thematischer Bezug zu gesellschaftlichem Zusammenhalt

Die 25-stündige Dorfgründungssimulation wird bundesweit im Politikunterricht von der 8. bis zur 13. Klasse eingesetzt. Das virtuelle Dorf kreiert einen Raum der Verbindlichkeit und Zugehörigkeit, der erfahrungsgemäß über gesteigerte Selbstwirksamkeitserwartungen Politikdistanz verringert, indem sich der Sinn von Politik intrinsisch erschließt. Als hochkontroverser, simulativer Handlungsraum fördert die Simulation vor allem die Konfliktlösungs- und Urteilskompetenz von Jugendlichen beziehungsweise legt Defizite und Schwierigkeiten dieser Kompetenzen offen. Indem Jugendliche sich vorstellen, in einem leerstehenden Bergdorf eine neue Gesellschaft zu gründen, werden sie auf zumeist unbekannte Weise mit eigenen und fremden Werten konfrontiert. Diese „Perturbation“ (Piaget) angesichts politischer Grundfragen wie Herrschaft, Güterverteilung, Religion, Ökologie, Gender und Migration löst Selbstreflexionsprozesse über die Kontingenz, Begründungspflicht und Veränderbarkeit der eigenen politischen Grundhaltung aus (Urteilskompetenz) und stärkt das Bewusstsein für die Notwendigkeit eines friedlichen demokratischen Koordinationsprozesses – zumindest bei nicht manifest extremistisch eingestellten Jugendlichen (Konfliktlösungskompetenz). Die jeweils bei einem Individuum rekonstruierbare argumentative Performanz in Abhängigkeit von latenten und manifesten politischen Werthaltungen bezeichnen wir als „Politisierungstyp“, dabei unterscheiden wir demokratische und antidemokratische beziehungsweise demokratieskeptische Typen, die Ungleichwertigkeitsvorstellungen zeigen.

Lehrer*innen trainieren und elaborieren im Verlauf des Projekts Diagnose- und Handlungsstrategien im Umgang mit demokratischen und anti-demokratischen Politisierungstypen. Bisherige Handlungsstrategien sollen durch neue Fälle vertieft und ergänzt werden.

Team

Projektverantwortlicher: Andreas Petrik

Projektmitarbeiter: Dr. David Jahr

Laufzeit

06/2020–05/2024

Publikationen (Auswahl)

  • Petrik, Andreas 2013: Von den Schwierigkeiten, ein politischer Mensch zu werden. Konzept und Praxis einer genetischen Politikdidaktik. Studien zur Bildungsgangforschung, Band 13, 2., erweiterte und aktualisierte Auflage, Opladen, Berlin, Toronto.
  • Petrik, Andreas 2015: Die Argumentationsanalyse als Instrument zur Rekonstruktion latent rechtsextremistischer Politisierungstypen, in: Petrik, Andreas (Hrsg.): Formate fach­didaktischer Forschung in der politischen Bildung, Schwalbach am Taunus, 176-188.
  • Petrik, Andreas; Hentschel, Jannis; Köhler, Anke 2018: Lernort Schule: Die „Dorfgründung“ als demokratischer Prozess. Ergebnisse eines Simulationsspiels im Unterricht. Forschungsbericht des Projekts Demokratietransfer, Band 2, Halle.

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